Dieser Beitrag enthält Werbung – advertising.
Wallner war achtunddreißig Jahre alt, groß und halbwegs schlank – was im Augenblick nicht zu erkennen war. Denn Wallner trug eine voluminöse Dauenjacke. Die trug er den ganzen Winter. Das heißt von Ende September bis Anfang Mai. Wallner litt an einem Leiden, dass sonst zumeist den Frauen nachgesagt wird: Wallner fror. Ständig. Im Winter sowieso. Aber auch im Sommer. …
Wallners größter Feind aber war der Luftzug. Nicht dass sich Wallner Sorgen um seine Gesundheit machte. Er fror einfach, wenn es zog. Andere Menschen waren of erstaunlich unsensibel in der Hinsicht. Wallner hingegen hatte die empfindlichsten Antennen für Luft, die nicht stillstehen wollte. Hier am See war die Luft still. Bei minus dreizehn Grad.
aus: Der Prinzessinenmörder
Im Wilden Süden unserer Republik
Clemens Wallner friert – er friert während all seiner Ermittlungen in Oberbayern. Kein Wunder: hier gibt es immer einen ordentlichen Winter mit viel Schnee und Eis. Die Berge sind hoch und schneebedeckt bis ins Tal. Die Seen frieren zu: es ist ein wahres Wintermärchen – mit Mord und Totschlag, Prügeleien, Misshandlungen … Märchenlandschaft und Realität begegnen sich.
Wallners Feinfühligkeit, die sich nach außen bei seiner Temperatur- und Zugluft-Empfindlichkeit offenbart, hilft ihm bei jedem seiner verzwickten Fälle, Täter und Motive zu entlarven. Oft hängt es von Nuancen der Wahrnehmung ab, einen Fall zu lösen: Aufmerksamkeit für Details, ein verlässliches Bauchgefühl und die einfühlsame Einschätzung von Zeugen und Beteiligten kennzeichnen Wallners Vorgehen.
… und damit passt Wallner so gar nicht in sein Umfeld, denn wir sind eigentlich im “Wilden Süden”, aka Oberbayern. Hier finden wir noch die echten Mannsbilder, die im Gasthof mal eben fünf oder sechs Halbe wegtrinken, darauf ein paar Glaserl Selbstgebrannten und dann locker in ihren Wagen steigen (oder auf den Traktor klettern!) und nach Hause fahren. Weil’s meist schon spät ist, zittert die Tachonadel dann bei achtzig, hundert, hundertzwanzig … Oder zwei Zechgenossen wollen mal eben testen, welches Auto denn schneller ist, und veranstalten ein kleines Privatrennen. Wenn es dann noch etwas eisig auf der Fahrbahn ist … Die Polizei kennt jeder – auf dem Dorf kennt man sich ja untereinander immer recht gut – und die drückt dann schon mal ein Auge zu.
Zuhause wartet die Ehefrau/Verlobte/Freundin, die ganz schnell, wenn sie mault, eins aufs Maul bekommt – da gibt es viele blaue Augen und blaue Flecken … Diese Frauen in Oberbayern laufen eben immer wieder wie blind gegen Türen und Torbögen, stolpern auf Treppen … Töchter sind Freiwild – und bleiben am besten immer im Haus und sorgen von morgens früh bis abends spät für die Mannsbilder der Familie.
Jeder hat sein Gewehr, um ein bisschen zu wildern, und seine Ecke in der Scheune, wo der Schnaps schwarzgebrannt wird. Bargeld wechselt den Besitzer. Rechnungen braucht niemand. Verlassene Autos verschwinden auf Nimmerwiedersehen auf Schrottplätzen …
… und mittendrin steht Clemens Wallner und versucht mit seinem Team und zahlreichen Sonderkommissionen Licht ins Dunkel der oberbayrischen Szene zu bringen, wenn wieder einmal eine Leiche auftaucht.
Ich will hier mal kurz noch etwas zu Leonhardt Kreuthner sagen, seines Zeichens Polizeiobermeister. Die Bücher haben alle den Untertitel „Ein Wallner & Kreuthner Krimi“. Ich habe die Bücher gelesen und für mich ist Wallner die Hauptfigur; Kreuthner ist eher so eine Art kleines Teufelchen, dass immer wieder auftaucht und Unruhe stiftet … und er ist ein running gag!
Kreuthner macht seinem Spitznamen „Leichen-Leo“ alle Ehre, denn er findet Leichen, Skelette, Ermordete. Immer wieder. In jedem Roman. Er findet sie, wenn er morgens zur Ausnüchterung über einen zugefrorenen See spaziert; er findet sie, wenn er einen Dauerlauf startet, um den Gesundheitstest der Polizei endlich einmal zu bestehen; er findet sie, wenn er ein illegales Autorennen mit einem Saufkumpan veranstaltet; er findet sie, wenn er im Fasching eine Frau für eine romantische Nacht abschleppen will und in das – wie er annimmt – leer stehende Haus eines Bekannten eindringt …
Kreuthner ist zwei Jahre jünger als Wallner und wird ewig bei der uniformierten Polizei bleiben – Beförderung ausgeschlossen. Er kann froh sein, wenn er nicht ins Tages seinen Job verliert. Warum? Er trinkt gern und viel, trinkt auch gern mit alten Freunden, die jenseits der Legalität operieren. … und anschließend fährt er nach Hause und gerät auch schon mal in eine Polizeikontrolle. Er hat von seinem verstorbenen Onkel eine Schwarzbrennerei geerbt, die er fleißig weiterbetreibt – nicht nur für den Hausgebrauch. Er ist immer und für jeden Scherz zu haben, sei es den Wagen eines betrunkenen Zechers mitten in ein anscheinend seichtes Gewässer zu verfrachten, sei es einem frisch verheirateten Paar in der Hochzeitsnacht in ihrem Haus den Zugang zur Toilette zu blockieren oder den Maibaum des Nachbardorfs zu klauen.
Kreuthner ist und bleibt Kreuthner: Wallner weiß es und rechnet immer mit dem Schlimmsten, wenn Kreuthner irgendwo plötzlich auftaucht oder an irgendeiner Schandtat beteiligt scheint. Aber kommen wir nun zu Wallner, unserem fleissigen Ermittler, dem es gelingt, jeden noch so verzwickten Fall zu lösen – sogar wenn er dazu sehr tief in die Vergangenheit eintauchen muss, denn oft sind aktuelle Mordfälle nur das letzte Glied in einer Ereigniskette, die schon vor Jahren oder gar Jahrzehnten losgetreten wurde.
Wallner hat ein recht kleines Team, das Ermittlungen im Umfeld der Toten, Interviews und Verhöre etc. abdeckt, das Spurensicherung durchführt, das Internet-Recherchen beherrscht – kurz: alles, was so anfällt. Bei den Mordfällen kommt fast immer Unterstützung aus dem Umland, um der Masse der Hinweise und Ergebnisse Herr zu werden – also Sonderkommissionen von 20-30 Personen sind an der Tagesordnung.
Was passiert so im Wilden Süden?
Da geht es um Inzest und die Folgen für Opfer und Mitwisser – Jahre später. Ein Vater startet einen Rachefeldzug, um den tragischen Unfalltod seiner Tochter zu rächen. Ein Immobilienskandal irgendwo in der Republik sorgt nach mehr als 20 Jahren für Tote. Mitläufer des deutschen Sympathisantenumfelds – also RAF & Co. – ziehen sich aus dem Geschäft, in dem sie eigentlich nie wirklich aktiv waren, zurück und beruhigen ihr Gewissen, indem sie später gemeinsam ein paar Millionen für gute Taten erpressen, was natürlich nicht ohne Kollateralschäden vonstatten geht. Uneheliche Kinder werden illegal vermittelt; Jahre später sinnen die Mütter auf Rache.
… und da gibt es noch einen sehr speziellen Fall:
Es geht um ein Verbrechen aus dem Dritten Reich. In den meisten Fällen habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Einbeziehung dieser durchaus interessanten Fälle letztendlich misslingt, da die Zeit unaufhaltsam verrinnt. Immerhin sind seit Ende des 2. Weltkriegs inzwischen mehr als 75 Jahre vergangen. Kriminelle, Nazis und Kriegsverbrecher aus der Zeit des Dritten Reichs sind inzwischen längst tot oder zwischen 90 und 100 Jahre alt. In dieser Serie wird das Problem jedoch recht gut gelöst, da der Roman bereits 1992 spielt – also chronologisch gesehen der erste Roman der Serie. Wallner und Kreuthner sind als ganz junge Polizisten involviert und stehen beide noch am Anfang ihrer Karriere bzw. ihrer nicht-Karriere.
Die übrigen Romane spielen zwischen 2007 und heute. In dieser Zeit wird die Entwicklung von Wallner mit viel Hingabe geschildert. Immerhin heiratet Wallner in dieser Zeit zum zweiten Mal und wird Vater einer Tochter. Die Ehe hält jedoch nicht lange, so dass Wallner seine Tochter nur an einzelnen Wochenenden sieht. (Seine erste Ehe scheiterte, nachdem das gemeinsame Baby tragisch verstarb.) Wallner ist nicht glücklich damit, allein bzw. wieder allein zu sein.
Er lebt mit seinem Großvater zusammen, der mittlerweile über 80 Jahre alt ist, aber immer noch agil und fit für alle möglichen und unmöglichen kleinen Abenteuer ist. Die Demenz scheint sich jedoch langsam vorzukämpfen … Wallner macht sich immer Sorgen ums einen Großvater.
Wallners Mutter starb bei einem Badeunfall als Wallner 2 Jahre alt ist; später stellt sich heraus, dass es wohl eher Selbstmord war. Wallners Vater geht ein paar Jahre beruflich nach Südamerika und kehrt nicht zurück. Alle Kommunikationskanäle versiegen. Wallner, damals sieben Jahre alt, ist verzweifelt und bleibt bei seinen Großeltern zurück. Die Großmutter verlässt den Großvater, als Wallner 22 Jahre alt ist. Auch hier verstummt die Kommunikation.
Alles, was Wallner offensichtlich blieb, ist sein Großvater, um den er sich mit viel Hingabe kümmert. Dann … erfährt Wallner, dass er noch eine Halbschwester hat. … und er lernt auch, dass sein Vater noch lebt … Wallners Familie ist kompliziert und seine Lebenshaltung ist überschattet von den Verlusten, die er im Laufe der Jahrzehnte erleben musste. Er hat es nicht leicht.
Die Romanserie vermittelt ein konsistentes Bild der Jahre, die in den Romanen vergehen, und jener Zeit davor. Es wird immer wieder deutlich, dass alle Verbrechen komplex sind und ihre Wurzeln vielfach in der Vergangenheit liegen. Für Wallner und sein Team ist es oft schwierig, sich durch den Dschungel der Halbwahrheiten, Erinnerungslücken und Lügen zu kämpfen – das „konsistent Bild“ umfasst eben auch die Ziele und Aktionen der Beteiligten, die der Polizei gegenüberstehen. Schuld, Sühne, Rache, Gier und Neid sind beherrschende Themen im Wilden Süden, wo die Menschen auch dazu neigen, ihre Sicht der Dinge selbst in die Hand zu nehmen und alles andere gerade zu rücken.