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Quelle: pixabay
Das mysteriöse Verschwinden des Taxifahrers hatte bereits im Januar zu Schlagzeilen geführt, war aber in der Öffentlichkeit auf eher geringes Interesse gestoßen. Jens Hummel hatte keine Familie, die Presse oder Polizei hätte unter Druck setzen können. Nur eine Großmutter, die mit ihrem Verlust ganz allein klarkommen musste.
Als die Medien dann vor kurzem Interesse gezeigt hatten, den Fall erneut aufzurollen, hatte Wisting das unterstützt in der Hoffnung, dass durch einen Artikel vielleicht neue Informationen ans Licht kommen könnten. Der Zeitfaktor sprach eigentlich eher gegen die Wiederaufnahme der Ermittlungen. Doch Gerüchte und Klatsch konnten sich inzwischen weiter verbreitet und schließlich jemanden erreicht haben, der bereits war, mit der Polizei zu reden. In solchen Fällen konnte die mediale Aufmerksamkeit oft der Auslöser sein.
Als der Artikel schließlich gedruckt wurde, richtet er sich allerdings gegen die Polizei im Allgemeinen und gegen Wisting als Ermittlungsleiter im Besonderen. Zwar ging aus ihm nicht hervor, was die Polizei konkret hätte anders machen können, aber der Artikel zeichnete das Bild einer Polizei, die nicht genügend Interesse für den Fall aufgebracht und schlechte Arbeit geleistet hatte. Die ergebnislose Ermittlung sprach für sich selbst. Der Polizei war es nicht einmal gelungen, Hummels Wagen zu finden. Die kurz zuvor erschienen Halbjahresstatistik, aus der hervorging, dass die Polizei fats zwanzig Prozent mehr Verkehrskontrollen als im Jahr zuvor durchgeführt hatte, wurde von der Presse als Beweis für falsche Entscheidungen und unsinnige Prioritäten angeführt. Die Sympathie lag in diesem Fall nicht bei der Polizei, die eine schwierige Aufgabe lösen musste, sondern allein bei der Großmutter, die ihrem einzigen Enkel verloren hatte.
Wisting war daran gewöhnt. kritisiert zu werden. Normalerweise prallet Kritik an ihm ab, aber dieses Mal hatte er sie als etwas anderes empfunden. Sie war eine Erinnerung an seinen Misserfolg. Ohnehin hatte der Hummel-Fall ihn von Anfang an beunruhigt und das nagende Gefühl verursacht, nicht ausreichend für die Ermittlung gewappnet zu sein.
»Spurlos verschwunden ist in dieser Geschichte wirklich mal ein passender Ausdruck«, fuhr Christine Thiis fort. »Man hätte doch annehmen können, dass angesichts der Überprüfung von Telefonverbindungen und Mautstationen sowie Taxameter und Navigationsgerät irgendetwas auftaucht, was uns verraten könnte, wo er und sein Wagen abgeblieben sind. Aber wir haben überhaupt nichts.«
aus: Blindgang
Durchhaltevermögen
William Wisting hat einen langen Atem und den braucht er auch. Seine Fälle sind komplex und langwierig und entwickeln oft nach Jahren, wenn alles erledigt scheint, überraschende Dynamik. Gleichzeitig scheinen die Fälle auf den ersten Blick oft recht einfach zu sein, was aber am Ende nicht stimmt und was auch der Hauptgrund dafür ist, dass die Spannung beim Lesen langsam steigt.
Wisting lebt auf dem Lande in Norwegen, in einer schönen Küstenregion mehr als 100 km südlich von Oslo. Hier gibt es keine Großstadtverbrechen, sondern nur Kleinkriminalität, könnte man meinen, aber so ist es nicht. Mord gibt es überall. Wisting, zwischen 50 und 60 Jahre alt, hat schon viel gesehen, und er wird jetzt müde, wie es scheint.
Kurz gesagt: Ein weiterer skandinavischer Ermittler sieht sich mit zu viel Kriminalität, zu vielen bösen Menschen, zu vielen schrägen, desinteressierten Kollegen konfrontiert … Sein Privatleben ist ein Scherbenhaufen. Er ist einsam, obwohl er eine – manchmal anstrengende – Tochter hat und auch einen Sohn, der aber nie auftaucht. (Kein Vergleich meinerseits mit anderen fiktiven Figuren des Scandic Noir!)
Wisting ist einsam und besessen von seinen Fällen. Wenn er eine Untersuchung beginnt, wird alles in Frage und auf den Kopf gestellt. Oft gibt es Hinweise, kleine, scheinbar abwegige Aspekte eines Beweises, die ihn ermutigen, tiefer zu graben, selbst wenn seine Kollegen mit den bisherigen Ergebnissen zufrieden sind oder – noch schlimmer – wenn er jemandem von höherem Rang in der Strafverfolgung auf die Füße treten muss.
Das trägt natürlich nicht gerade zu Wistings Beliebtheit bei der Polizei bei, vor allem wenn seine Vorgesetzten gefragt werden. Ansonsten ist er erfolgreich und schließt alle seine Fälle eindeutig ab, auch wenn er dazu tief in der Vergangenheit wühlen muss. Er ist also … ein guter Ermittler und Polizist.
Wisting trifft auf reiche und erfolgreiche Menschen ebenso wie auf Sozialfälle und sogar Psychopathen. Dabei spielt es keine Rolle, dass er – wie schon gesagt – auf dem Lande lebt. Die Kriminalität kennt auch hier keine Grenzen. Menschen sind grausam, wenn es um viel Geld geht oder ihr bequemes Leben in Gefahr ist.
Wistings Frau ist vor einigen Jahren gestorben, und er sehnt sich nach einer Lebensgefährtin, aber es klappt nicht. eine Zeit lang gibt es eine neue Frau in seinem Leben – aber nicht lange. Am Ende resigniert er und denkt, dass er für den Rest seines Lebens allein bleiben wird.
Seine Tochter Line, eine Enthüllungsjournalistin, lebt mit ihrer kleinen Tochter inzwischen in der Nähe. Wisting ist also nicht verloren. Line ist fast immer irgendwie in seine Fälle verwickelt. Sie stellt gerne eigene Nachforschungen zu Kriminalfällen an, die sie manchmal ins Rampenlicht rücken – in den Fokus des Übeltäters. Mehr als einmal gerät sie in gefährliche Situationen und riskiert ihr Leben, wenn sie unwissentlich mit einem Psychopathen flirtet. (Keine Angst: ihr Vater rettet sie immer in letzter Minute.)
Die Fälle sind komplex und erfordern langwierige Ermittlungen. Die Romane befassen sich detailliert mit allen Aspekten der polizeilichen Vorgehensweise. In der Regel entwickelt sich alles daher eher langsam. (Man darf auch nicht vergessen, dass wir uns auf dem Land befinden.) Trotzdem ist es spannend – und es gibt immer ein überraschendes Ende.