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Ruth will schon ihr Willkommenslächeln aufsetzen, doch Phils nächste Worte lassen sie überrascht innehalten.
«Das ist Detektive Chief Inspector Harry Nelson. Er will mit dir über einen Mord reden.»
«Einen mutmaßlichen Mord», verbessert Detetcove Chief Inspector Harry Nelson sofort. …
«Wir haben Knochen gefunden», sagt er. «Sieht aus, als stammten sie von einem Kind, aber sie wirken irgendwie alt. Ich muss wissen, wie alt.»
Ruth schweigt, doch Phil mischt sich eifrig ein. «Wo haben Sie die Knochen denn gefunden, Inspector?»
«Beim Vogelschutzgtebiet. Im Salzmoor.»
Phil sieht Ruth an. «Aber das ist ja gleich bei dir …»
«Ja, ich weiß», bremst ihn Ruth. «Wie kommen Sie darauf, dass die Knochen alt sein könnten.»
«Sie sind bräunlich verfärbt, wirken aber sonst gut erhalten. Ich dachte, das ist Ihr Fachgebiet?» Sein Ton wird unvermittelt aggressiver. …
«Können Sie sich die Sachen mal ansehen?», fragt Nelson.
Ruth tut, als würde sie nachdenken, obwohl sie längst geködert ist. Knochen! Im Salzmoor! Wo sie damals ihre erste, unvergessliche Ausgrabung mit Erik absolviert hat. Das kann alles Mögliche bedeuten. Eine Entdeckung vielleicht. Oder aber …
«Und Sie vermuten einen Mord?», fragt sie.
Nelson sieht zum ersten Mal etwas unbehaglich drein. «Darüber möchte ich lieber nicht sprechen», sagt er ernst. «Zumindest jetzt noch nicht.» …
«Dann schicke ich Ihnen um zwölf einen Wagen», sagt Nelson.
Zu Ruths heimlicher Enttäuschung schickt Nelson ihr keinen Streifenwagen mit Blaulicht und allem Drum und Dran.
aus: Totenpfad
Die glückliche Archäologin
Eigentlich ist Dr. Ruth Galloway eine glückliche Frau. Sie liebt ihren Job als forensische Archäologin und ihre Lehrtätigkeit an der Universität. Sie genießt es, Knochen oder andere Artefakte auszugraben und sich die Hände schmutzig zu machen. Obwohl sie erst vierzig Jahre alt ist, hat sie einen guten Ruf in der wissenschaftlichen Welt und arbeitet ständig an Publikationen über ihre archäologische Funde.
Gleichzeitig scheint sie doch ein wenig einsam zu sein. Sie hat ein kleines Cottage unweit der Küste inmitten des Salzmoors gefunden, ein gottverlassener Ort, wo nur ihre Katzen und einige Wochenend-/Sommergäste, die nebenan wohnen, ihr Gesellschaft leisten. Ihre Eltern leben nach wie vor in London. Die Beziehung ist nicht die beste, denn ihre Eltern sind Born-Again-Christians und möchten, dass sie heiratet, ihre Karriere aufgibt und sich aufs Kinderkriegen konzentriert. Pech gehabt.
In der gesamten Serie, die sich inzwischen über mehr als zehn Jahre erstreckt, gibt es zwei Handlungsstränge: Natürlich gibt es in jedem Band den Kriminalfall, einen Mord oder was auch immer, aber es gibt auch Ruths Privatleben, das interessanter ist, als man zu Anfang denken mag.
Das Privatleben …
Ruth lebt zusammen mit ihren zwei Katzen in einem Häuschen auf dem Salzmoor. (Später gibt es nur noch eine Katze!) Sie ist der bodenständige Typ mit bequemen Klamotten, denn sie ist auch … übergewichtig. Nach jahrelangen Versuchen mit Schlankheitsdiäten … kümmert sie sich inzwischen nicht mehr darum. Etwa ein Jahr später erblickt Kate das Licht der Welt, Ruths Tochter, aus einem One-Night-Stand, völlig ungeplant. Ratet mal, wer der Vater ist. Es ist DCI Harry Nelson.
Nelson ist verheiratet und hat zwei Kinder, zwei Mädchen im Teenageralter, die heranwachsen und selbstständig werden – und schließlich das heimische Nest verlassen. Seine Frau sieht umwerfend aus. Scheidung? Nelson denkt, es könnte schwierig werden … obwohl er dann erfährt, dass seine Frau eine Affäre mit einem Kollegen von ihm hat, der aber im Dienst sein Leben lässt. Schließlich wird seine Frau noch einmal schwanger (von Harry) und Harry wird Vater eines kleinen Sohnes. Von diesem Zeitpunkt an gibt es kein einsames Herumgrübeln mehr über eine Scheidung und ein Leben mit Ruth. Dennoch ist Nelson sehr darauf bedacht, sich um Kate zu kümmern.
Natürlich wird dies alles irgendwie nach und nach publik und es entsteht eine Art Patchwork-Familienleben. Ihr könnt sicher sein, dass immer mal wieder jemand mit der ganzen Situation nicht klar kommt, ob es Ruth ist, ob es Nelson ist, ob es Nelsons Töchter sind … Ruth lernt ihrerseits Männer kennen, die sie mögen bzw. sich in sie verlieben – und umgekehrt. Es breitet sich langsam ein interessantes Familienchaos aus, das sich in den Jahren kontinuierlich weiterentwickelt.
Ruth ist einsam? Scheint nicht so … vor allem, wenn man ihre privaten Freunde wie Cathbad, den Druiden, und sein Gefolge berücksichtigt, ihre Kollegen an der Universität und schließlich all die Ermittler der Polizei, die sie definitiv mögen – was auch immer zwischen ihr und ihrem Boss, DCI Nelson, vorgefallen sein mag. Ruth scheint also nach all den Jahren glücklich und nicht mehr einsam zu sein. (Das Privatleben … entwickelt sich … und ist immer wieder für eine Überraschung gut.)
Braucht Ruth Nelson?
Es scheint nicht so zu sein. Ruth meistert ihr Leben und das ihrer Tochter ohne große Probleme und Katastrophen. Sie scheint keinen Nelson zu brauchen, auch wenn Nelson die Angelegenheit anders behandelt. Nelson ist immer sehr besorgt um Kate und fürchtet, dass seiner kleinen Tochter alles Unheil der Welt zustoßen könnte.
Nelson und Ruth lernen sich ursprünglich kennen, als Knochenfunde im Salzmoor auftauchen. Es geht darum, das Geheimnis des Verschwindens eines kleinen Mädchens zu lüften, das Jahre zurück liegt. Nach ein paar Ermittlungen geschehen es weitere Mordfälle, weil der Täter Spuren verwischen will. Nelson und Ruth sind ein gutes Team, wie sich zeigt.
In den folgenden Jahren gibt es immer wieder neue Knochen auszugraben, noch mehr Morde zu untersuchen, noch mehr Verbrechen an der Küste von Norfolk, in kleinen Dörfern, alten Kirchen, an Ausgrabungsstätten … All diese Fälle landen auf Nelsons Schreibtisch. Nelson verlässt sich immer wieder auf Ruth und ihre Erfahrung in Sachen forensischer Analyse – und Ruth genießt es, obwohl sie oft viel riskiert, wenn sie sich in laufende Ermittlungen einmischt.
Die Fälle sind keine plüschigen, netten kleinen Ermittlungen: Sie sind real und brutal. Kurzum: Menschen töten in der Serie nicht aus Langeweile, sondern verfolgen ganz spezielle persönliche Ziele. (Man ersetze Tötungsdelikte durch Entführung, Kindesmissbrauch usw.) Wenn der Eindruck entstanden sein sollte, dass der Schwerpunkt der Serie der Entwicklung dem um sich greifenden Familienchaos gewidmet ist – nein: im Mittelpunkt steht immer das Verbrechen. Andererseits ist in der gesamten Serie das Privatleben aller Akteure um Ruth herum immer Teil des Ganzen und trägt zum Roman bei.
Was gibt es noch?
Die Romane sind spannend: das beste Kriterium für mehr, für weitere Romane. Doch nun ist der letzte Roman angekündigt … Es ist #15 der Serie. (Ich habe ihn bisher noch nicht gelesen – ich habe gerade #14 beendet …)
Das Patchwork-Familienchaos ist bereits in #14 von Covid getroffen … und es wird noch chaotischer. Ruth ist inzwischen Anfang fünfzig, Kate startet ins Teenager-Dasein … und Nelson nähert sich r<sant dem Ruhestandsalter. Der letzte Roman wird also nicht nur einen weiteren spannenden Mordfall präsentieren, sondern muss auch die privaten Angelegenheiten entwirren. Ich freue mich schon darauf …
(Ich bin aber nicht sicher und überzeugt, dass es wirklich der letzte Roman der Serie ist – meine rein privaten Gedanken dazu!)