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»Livia, ich fühle mich nicht verraten. Ich bin verraten worden. Hier geht’s nicht um Gefühle. Ich habe meinen Beruf immer mit Anstand ausgeübt. Als Ehrenmann. Wenn ich einem Kriminellen mein Wort gegeben habe, habe ich es auch gehalten. Und dafür respektiert man mich. Das ist meine Stärke, verstehst du? Aber jetzt reicht’s mir, ich habe die Schnauze voll!«
»Bitte schrei nicht«, sagte Livia mit zitternder Stimme.
Montalbano hörte sie nicht. In ihm war ein Geräusch, als finge sein Blut gleich an zu kochen. Er fuhr fort:
»Nicht mal dem schlimmsten Verbrecher habe ich falsche Beweise untergeschoben! Nie! Damit hätte ich mich ja auf sein Niveau begeben. Dann wäre meine Arbeit als Bulle zu einem Drecksgeschäft geworden! Stell dir das mal vor, Livia! Nicht irgendein unterbelichteter, gewalttätiger Polizist hat die Schule überfallen und irgendwelche Beweise fabriziert, da waren Polizeipräsidenten und stellvertretende Polizeipräsidenten, Hauptkommissare und Konsorten mit von der Partie!«
aus: Das kalte Lächeln des Meeres
Ein ehrbarer Feinschmecker im Lande der Paten
Salvo Montalbano lebt in Sizilien und ist Kriminalkommissar. Er ist il commissario – ohne jede Konkurrenz. Im Gegensatz zu dem, was man sich allgemein so vorstellt, macht er seinen Job, ohne Gefahr zu laufen, dass dauernd ein Mafiakiller in der Nähe ist und nur auf eine Gelegenheit wartet, ihn hinterrücks zu erschießen. Auch was die legendären Mythen über Korruption betrifft, löst Montalbano seine Fälle nach allen Regeln der Ermittlungskunst und bringt die Verdächtigen vor Gericht, auch wenn es schon mal vorkommen kann, dass ein Täter plötzlich von einem nicht identifizierbaren Scharfschützen kurzerhand erschossen wird. Im Alltag scheint die sizilianische Polizei weit entfernt von jeglichen Mafia-Machenschaften, während sie vor allem mit der Aufklärung von Kleinkriminalität und ausufernden Familienfehden beschäftigt ist, ganz zu schweigen von dem Trümmerfeld der traditionellen Blutfehden.
Natürlich gehen die alteingesessenen Mafia-Familien ihren Geschäfte überall nach, wenn auch meist diskret im Hintergrund. Es gibt Korruption auf politischer Ebene, in der Verwaltung – überall. Montalbano versucht in diesem Wirrwarr, Ruhe zu bewahren, am Leben zu bleiben und sein privates Verständnis von Recht und Ordnung durchzusetzen.
Montalbanos Leben beginnt morgens damit, dass er im Meer vor seinem Haus schwimmen geht und danach genussvoll einen starken Espresso trinkt. Er verfügt über ein Büro mit recht viel Personal, kann jederzeit auf einen Fahrer zurückgreifen, wann auch immer er einen braucht, könnte bis Mittags zu Hause bleiben, wenn er möchte – obwohl dies nur selten vorkommt.
Zum Mittag isst er gern in einem einfachen, aber exquisiten lokalen Restaurant, das vor allem frischen Fisch und Meeresfrüchte serviert. Zusammenfassung: Frischer Fisch, Meeresfrüchte und Pasta scheinen für Montalbano eine entscheidende Rolle zu spielen, wenn es darum geht, wie er sich fit hält, obwohl er sich gern große Portionen gönnt. Anschließend macht er fast immer einen Spaziergang am Hafen entlang bis zum Leuchtturm …
Fürs Abendessen bereitet seine Haushälterin Adelina immer Köstlichkeiten zu, die in seinem Backofen auf ihn warten, um dann auf seiner Terrasse mit einem Glas Wein und Blick auf den Strand verputzt zu werden. Unter uns: Adelina ist ein Goldstück und arbeitet schon seit einer Ewigkeit für Montalbano, obwohl er dafür verantwortlich ist, dass ihr Sohn im Gefängnis sitzt. Ein kleines Problem: Adelina kommt mit Livia nicht klar.
Livia ist Montalbanos ständige Begleiterin, seine Verlobte, schon seit Beginn der Serie. Livia lebt im Norden Italiens, in Genua. Ab und zu fliegt sie nach Sizilien oder Salvo fliegt nach Genua – und jeden Tag telefonieren sie. Vielleicht ist das das Geheimnis ihrer glücklichen Beziehung – obwohl Livia eifersüchtig ist und manchmal – eigentlich recht häufig – Wutanfälle am Telefon bekommt. Montalbano lässt es einfach über sich ergehen. Livia hat ihre speziellen Probleme mit Adelina und sie mag eigentlich auch Sizilien und die sizilianische Lebensweise nicht, aber sie liebt ihren Salvo.
Es scheint ein ideales Leben für Montalbano zu sein – wäre da nicht die überbordende Bürokratie, die Trägheit einiger Abteilungen, verstockte Zeugen, Korruption und politische Spielchen – und noch viel mehr. Montalbano versucht, alle Hindernisse geschickt zu umgehen, und es gelingt ihm meistens.
Ich will jetzt nichts dazu sagen, warum Andrea Camilleri Held Montalbano heißt. (Lest mal, was ich in meinem Post zu Manuel Vásquez Montalbán’s Pepe Carvalho (aus Barcelona) geschrieben habe.)
Abgesehen davon ist der Sizilianer Montalbano ein würdiger Vertreter des Clubs der klassischen Kriminalkommissare. Ich mag es, wenn ich darüber lese, wie er sich in einen kniffligen Mordfall hineindenkt, dabei eine vorzügliche Mahlzeit genießt und im offenen Meer schwimmt – vor meinem geistigen Auge wird alles real und ich denke an den nächsten Urlaub. Warum nicht Sizilien?
Montalbano wird es nie an Arbeit mangeln. Überall und jederzeit gibt es Verbrechen und Verdächtige, mal schuldig, mal unschuldig. Manchmal denke ich, dass niemand wirklich unschuldig ist, weil jeder ein bisschen Dreck am Stecken hat, weil jeder versucht, sich einen kleinen Vorteil zu verschaffen, mehr Geld und ein besseres Leben zu haben.
Inmitten all der Kleinkriminalität gibt es aber auch Morde, und die Mörder versuchen meist mit großer Energie und vielen Tricks, die Leichen verschwinden zu lassen – oder was immer sie glauben, was bei diesem Vorhaben funktionieren könnte. Als Folge davon müssen sich Montalbano und sein Team oft mit der nahen oder fernen Vergangenheit beschäftigen, wenn plötzlich ein Skelett mitten im Nirgendwo auftaucht.
Montalbano ist in Sizilien geboren und weiß alles über die sizilianische Lebensweise, die sizilianischen Familientraditionen, die sizilianischen Mafia-Clans. Er weiß, dass es einen Unterschied macht, ob die unverheiratete Nichte eines Mafiapaten schwanger wird und der zukünftige Vater sich aus dem Staub machen will oder ob sich dieses Drama in einer Familie ohne Verbindungen abspielt. Oder wenn der Sohn eines Abgeordneten im Vollrausch Geschwindigkeitsbegrenzungen missachtet – im Vergleich zum betrunkenen Sohn eines einfachen Ladenbesitzers. Montalbano ist mit dieser Zwei-Klassen-Gesellschaft oder gar der inzwischen entstehenden Mehr-Klassen-Gesellschaft nicht glücklich – bei genauerem Hinsehen weiß er jedoch immer, wie er damit umgehen muss.
Die Verbrechen sind zahlreich, gewalttätig, brutal, spontan … Montalbano und sein Team haben mit allen Varianten zu tun: manchmal entwickelt sich aus einem kleinen Fall eine Affäre, die das politische System und die Verwaltung erschüttert. Manchmal versucht ein Täter, einen Mafia-Clan für einen Mord oder was-auch-immer verantwortlich zu machen, aber Montalbano und vor allem auch die Mafia riechen den Beaten schnell, was für den Täter nie gut ausgeht.
In den letzten Jahren bzw. den letzten Romanen erreichen auch aktuelle Entwicklungen Sizilien und Montalbanos beschauliche Heimat. Ob es sich um Flüchtlinge und Menschenhandel oder blutige Streitigkeiten unter Asylbewerbern dreht, ob es sich um Internetkriminalität und digitale Schmutzkampagnen handelt – selbst ein terroristischer (wie es scheint!) Anschlag auf eine Schule sorgt landesweit für Aufregung. Was das Internet und alles rund um Computer, Handys … angeht, verlässt sich Montalbano auf sein Team. Auf alles, was über einfache Telefonie hinausgeht, verzichtet er gern.
Montalbano und sein Team sind Menschen wie wir alle. Zumindest scheint es so. Manchmal gibt es ein bisschen Aufregung und Action, aber meistens arbeitet das Team wie eine klassische Ermittlungseinheit. Sie wühlen in alten Akten, sie reden mit Verdächtigen und vielen Zeugen – sie reden vor allem miteinander. Mit einem Mal sehen sie Licht am Horizont und sie rennen los, kehren um und rennen wieder los, solange bis der Fall wirklich gelöst ist. Spurensicherung und Forensiker sind ist natürlich inzwischen auch in Sizilien angekommen, aber alles braucht seine Zeit, und sizilianische Labors brauchen noch etwas mehr Zeit.
Montalbano und die Frauen – eine never-ending Story. Immer wieder trifft Montalbano eine schöne Frau, manchmal unschuldig, manchmal schuldig, manchmal nur eine Zuging oder eine alte Freundin. Montalbano kann keiner Versuchung widerstehen, obwohl er alt wird – langsam.
Er wurde 1950 geboren und in den letzten Romanen hat er schon den sechzigsten Geburtstag überschritten. Montalbano hat ein großes Problem mit dem Älterwerden. Im Gunde ist er fit (erinnert euch an das morgendliche Schwimmen und die mediterrane Ernährung) und er sieht gut aus (denkt nur an all die Frauen um ihn herum), aber er hat immer häufiger Träume, Albträume, Zweifel regen sich … Ich bin immer wieder neugierig, wie es in Montalbanos Privatleben weitergeht. (Zum Thema Träume: jeder der Romane beginnt inzwischen mit einem teilweise verstörenden Traum …)
In einem der letzten Romane, den ich gelesen habe, also #26, verliebt sich Montalbano in eine schöne Frau, eine jüngere Frau und läuft ihr schamlos hinterher. Er bricht mit Livia – nach immerhin mindesten zwanzig Jahren. Die Erkenntnis, dass er altert, mag hinter dieser Eskapade stecken. Ob die Trennung von Livia endgültig ist, wird die Fortsetzung zeigen.
Die bisherigen Romane sind für mich immer von der ersten Seite an fesselnd gewesen, obwohl viel über Montalbanos Privatleben und das private Treiben seiner Teamkollegen, über Essen und Frauen, über das Leben in Sizilien erzählt wird und die Verbrechen irgendwo mittendrin liegen. Die Romanserie schildert eine Region, eine Lebensart … und einen Kriminalbeamten mit Charakter, Mut und Sinn für Realitäten – mehr als von einem Kriminalroman zu erwarten ist.
Noch ein interessanter Punkt: Wenn man sich die Fernsehserie – von Anfang an – anschaut (also: soweit außerhalb Italiens möglich!), merkt man, wie jeder der Akteure älter wird … Die Schauspieler wurden nicht ersetzt (also: nur in einem einzigen Fall (Livia)!). Während die Romane das Älterwerden von Montalbano – immerhin von Anfang bzw. Mitte 40 bis Anfang 60 – schildern, wird dies auch in der TV-Serie so ganz natürlich umgesetzt.