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Ich hoffte, meine neue Mitarbeiterin würde sich hier wohlfühlen und nicht nach kurzer Zeit kündigen, wie es ihre beiden Vorgängerinnen mit der Begründung getan hatten, sie hätten sich die Abwicklung von Nachlässen anders vorgestellt, angenehmer irgendwie. Die eine hatte bei verwahrlosten Haushalten die Nase gerümpft, der anderen war vom Verwesungsgeruch schlecht geworden. Dabei hatte ich in den Bewerbungsgesprächen keine der Schattenseiten dieser Arbeit verschwiegen. Aber wie bei so vielem zeigte sich auch hier, dass die Vorstellung von etwas an die Realität nicht heranreichte. Wer nicht bereit war, auch einmal die Zähne zusammenzubeißen und zuzupacken, war bei der Nachlassverwaltung zum Scheitern verurteilt. Dabei bot sie einen Aspekt, der für mich alles andere aufwog: Ich sah mich als Anwältin der Toten, um deren Hinterlassenschaften und letzte Wünsche ich mich kümmerte.
aus: Das Verstummen der Krähe
Was vom Leben so übrig bleibt …
Kristina Mahlo, Anfang 30, wartet zu Beginn der Serie auf ihre neue Mitarbeiterin Funda. Sie lebt in Obermenzing, einem ruhigen Münchner Stadtteil, auf einem ehemaligen Hof. Hier hat sie sich auch ihr Büro eingerichtet und ihr Archiv, in dem sie vorübergehend alles lagert, was in Nachlässen so zu Tage kommt und von ihr bearbeitet und verarbeitet werden muss. Funda, Ende 20, kommt und bleibt; sie kommt mit dem Chaos und den „Müllhalden“ klar – und ihre türkische Mutter backt Unmengen Baklava und andere Köstlichkeiten, die ihren Weg immer wieder in Kristinas Büro finden.
Kristina lebt nicht allein auf dem Hof; ihre Eltern bewohnen eines der weiteren Gebäude, Kristinas Freund Simon betreibt dort seinen Weinhandel und Henrike, ein Neuzugang aus Norddeutschland, hat Platz für ihren Trödelladen gefunden und gemietet. Dann ist da noch Rosa, Simons Hund, und Alfred, die Krähe, die sich jeden morgen ihre Walnuss abholt.
Ich fand zuerst, dass das doch ein perfektes Lebensidyll ist, aber nicht alles, was glänzt, ist auch Gold. Gleich zu Anfang der Serie entdeckt Kristina morgens früh nach dem Aufstehen, dass die Kerze in der Laterne am Hofeingang nicht mehr brennt. Seit sechs Jahren brennt dort eine Kerze… Tag und Nacht. Jetzt ist sie verloschen, und Kristina kann sich nicht erklären, wie das bei einer soliden, windsicheren Laterne überhaupt passieren kann. Sie reagiert schnell und zündet die Kerze sofort wieder an, damit ihr Vater es nicht bemerkt. Es wäre für ihn eine Katastrophe.
Damit sind wir schon mitten im Leben von Kristina und ihrer Familie: alle wurden aus der Bahn geworfen; das Idyll ist nur optisch ein Idyll. Vor sechs Jahren verschwand Ben, Kristinas jüngerer Bruder, spurlos.
Ben war überdurchschnittlich intelligent und studierte Informatik. Er lebte in einer WG auf dem Hof in Obermenzing, bis er verschwand. Seine Eltern waren verzweifelt und gaben ihre Buchhandlung in Hessen auf, um auf den Hof nach Obermenzing zu ziehen, den der Vater ein paar Jahre zuvor geerbt hatte. Von hier aus versuchten sie, die Suche nach Ben zu organisieren. Es gab keine Spuren. Beide trennten sich vor fünf Jahren, bleiben jedoch auf dem Hof – in getrennten Wohnungen. Sie können nicht mehr miteinander sprechen und kommunizieren nur noch über Zettelchen.
Kristina hatte nach einer Banklehre ein Jurastudium im Berlin begonnen, dass sie kurz vor dem Abschluss abgebrochen hat, da sie sich auf die Suche nach Ben konzentrieren wollte. Ohne Erfolg. Kristina zog nach München, schaffte es aber nicht, ihr Studium wiederaufzunehmen. Sie begann als Nachlassverwalterin zu arbeiten; ihre Vorkenntnisse aus der Banklehre und ihrem Jurastudium halfen ihr dabei. Sie hat sich einen guten Ruf erarbeitet und wird immer wieder vom Nachlassgericht zum Vollstrecker berufen.
Bens Verschwinden hat das Leben von Kristina und ihren Eltern umgekrempelt, beinahe schon zerstört. Alle leiden noch heute. Da ist diese Ungewissheit, die ewige Hoffnung… Kristinas Vater hat die Laterne mit der immer brennenden Kerze aufgestellt und glaubt fest daran, dass Ben noch lebt und zurückkehren wird – außer wenn die Flamme erlischt…
Soweit zu Kristinas persönlichem Hintergrund; dann haben wir ihre Nachlassfälle. Sie bearbeitet immer mehrere Fälle parallel, denn die Ordnung eines Nachlasses dauert… Monate oder gar Jahre. Ob es hierbei um das Aufspüren verschollener entfernter Verwandter geht oder die Veräußerung von Hausrat, Wohnungen, Häusern oder Grundstücken. Letztendlich ist Kristina dafür verantwortlich, alles korrekt abzuwickeln und nachweisbar zu dokumentieren – und die Staatskasse befüllen, wenn sich kein Erbe findet.
Die Serie beginnt mit dem Selbstmord einer unheilbar krebskranken Frau, die ein Testament mit außergewöhnlichen Forderungen hinterlässt, die Kristina ernsthaft darüber nachdenken lassen, ob sie diese Aufgabe überhaupt annehmen kann. Dann muss sie sich mit dem Leben eines alten Mannes beschäftigen, der unter Verfolgungswahn litt und sein Haus in eine Festung verwandelt hat. Schließlich, im bisher letzten Fall der Reihe, trifft sie auf eine total verängstigte Frau, die durch ihre panische Angst zu Tode gekommen ist.
Im Grunde klingen die Fälle trivial, vor allem, da es doch nur darum geht, den Nachlass zu regeln, aber in der Realität ist es so, dass Kristina nicht nur die Unterlagen der Toten nach Geburtsurkunden, Versicherungspolicen und Mietverträgen untersuchen muss, sondern in diesem Zusammenhang meist ganz tief in das Leben der Toten eintaucht.
Auch die Toten hatten Familie und Freunde. Es gab Verwicklungen und Streitigkeiten. Es gab Verbrechen, Neid und Hass. Es gab Rache – und manch Toter fiel einer Racheaktion zum Opfer. Oft sind es Taten, die Jahrzehnte in der Vergangenheit liegen, die schließlich abgerechnet werden. Und es bedeutet nicht immer, dass die Polizei eine Straftat erkannt hat.
Kristina beschäftigt sich intensiv mit der Lebensgeschichte ihrer Opfer und erlebt manchmal auch Gewalttaten, die gegen sie gerichtet sind, wenn ein Täter meint, dass sie ihm zu nahe kommt. Hätten wir das von einer Nachlassverwalterin gedacht, die eigentlich nur im Staub alter Papiere wühlt?
Die Auseinandersetzung mit dem Leben der Toten fördert oft verwickelte Familienbeziehungen ans Licht (Stichwort: uneheliche Kinder), führt zu Freunden, die an der Oberfläche alle ganz lieb zueinander sind, aber darunter schwelt es (Stichwort: Geldprobleme), zu Verbrechen, die in der Vergangenheit liegen und heute durch den Tod eines der Beteiligten auf einmal aufgerührt werden. Krankhafte Erziehungsmethoden haben psychisch kranke Menschen hervorgebracht, die aggressiv ihre Ziele verfolgen und dabei auch über Leichen gehen – und wenn sie intelligent sind, merkt niemand etwas von den kleinen Morden, die begangen werden. Tote hinterlassen aber auch Botschaften und Tagebücher, schreiben eine Chronik ihrer Verbrechen, die andere blossstellen.
Kommen wir noch einmal zu Kristinas großer Herausforderung: das Testament der krebskranken Frau, die ihren Mann durch Selbstmord verloren hat, nachdem er wegen Mordes an einem Freund verurteilt wurde. Sie hat an seine Unschuld geglaubt, immer, felsenfest. In ihrem Testament wählt sie bewusst Kristina Mahlo als Testamentsvollstreckerin aus und beauftragt sie damit, den wahren Mörder zu finden. Sie vermutet ihn in ihrem Freundeskreis, dem sie ihr gesamtes Vermögen vermacht – natürlich abhängig davon, dass der wahre Täter gefunden wird.
Kristina zögert, denn Detektiv spielen und auf Mörderjagd gehen sieht sie nicht in ihrer Rolle als Nachlassverwalterin und Testamentsvollstreckerin. Aber die Tote wirft noch einen Köder aus: Sie erwähnt Ben. Ben hat angeblich eine Rolle gespielt, damals als es zu diesem Mord zwischen Freunden kam. Kristina ist hin- und hergerissen. Das Verschwinden Bens hat ihr Leben und das ihrer Familie fast zerstört: soll sie alles noch einmal aufrollen? Gibt es wirklich eine Beziehung zum Mord? Kristina akzeptiert schließlich und bringt damit eine Menge ins Rollen – ohne vorzugreifen: auch Bens Verschwinden klärt sich auf.
Kristina ist eigentlich eine ganz normale, junge Frau, ein bisschen alternativ, ein bisschen ängstlich, Beziehungen einzugehen – recht unspektakulär. Auch wenn das Verschwinden ihres Bruders ihr Leben total verändert hat, ist sie keine gescheiterte Existenz. Sie versucht, das Beste daraus zu machen. Als Nachlassverwalterin nimmt sie ihre Pflichten sehr ernst, aber sie ist immer noch neugierig genug, um sich bei jedem Fall erneut auf den Dialog mit dem Toten und seiner Vergangenheit einzulassen und zu versuchen, Gerechtigkeit walten zu lassen.