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Vera Stanhope stieg aus Hectors altem Landrover und spürte sofort wieder die Last ihres Gewichts in den Beinen. Hectors Landrover. Ihr Vater war nun schon seit Jahren tot, aber immer noch betrachtete sie ihn als seinen Wagen. Sie blieb kurz stehen und ließ den Blick übers Tal schweifen. Auch das hatte ihr Vater ihr hinterlassen: dieses Haus. Scheiß auf den ganzen Rest, dachte sie, vielleicht sollte ich ihm ja allein deswegen verzeihen. …
Doch die Tür war schon offen. Ihr ganzer Körper spannte sich an, und gleichzeitig spürte sie einen Schauer der Erregung. Ausgeschlossen, dass sie zur Arbeit fuhr, ohne die Tür abzusperren. An diesen ganzen romantischen Quatsch, dass man auf dem Land ruhig seine Türen offen lassen könne, hatte sie noch nie geglaubt. Verbrechen passierten auch in ländlichen Gemeinden. Sie kannte die Berichte und wusste, dass in den hübschen Mittelklasseschulen in Northumberland ebenso viele Drogen konsumiert wurden wie in den städtischen Highschools. Auf dem Lande konnten es die Lehrer nur besser unter den Teppich kehren. Mit dem Ellbogen stieß sie die Tür auf und dachte, ein Einbruch wäre nun wirklich das Letzte, was sie brauchen könne. Bei ihr gab es nicht viel, was man hätte klauen können. Jeder Einbrecher, der etwas auf sich hielt, hätte beim Anblick ihrer Secondhandklamotten, ihres armseligen Computers und des zehn Jahre alten Fernsehers die Nase gerümpft. Aber der Gedanke, ein Fremder könnte im Haus sein, war ihr zuwider. Und dann müsste sie ja auch die Spurensicherung rufen, und die würden das reinste Chaos hinterlassen und Fingerabdruckpuder auf allen Oberflächen. Danach würden sie wieder ins Büro gehen und allen erzählen, in was für einer Rumpelkammer sie lebte.
aus: “Das letzte Wort”
Eine mürrische, alte Frau, die ohne Bier und Whisky…
Vera ist eine recht einsame Frau, die allein in einem heruntergekommenen Bauernhaus mitten im Nirgendwo lebt. Sie mag ihre Einsamkeit, aber manchmal beklagt sie schon, dass sie es nicht geschafft hat, Mann und Kinder … – wenn auch immer nur für einen kurzen Moment. Sie hat sich ihr eigenes Leben aufgebaut. Ihre Leidenschaft ist das Verbrechen, besonders Mord.
Ihre Mutter starb, als Vera noch sehr jung war, und Vera blieb in der Obhut ihres Vaters Hector zurück, einem mürrischen, alten Mann, der sich nicht viel um sie kümmerte. Er war ein Jäger, Wilderer, Präparator, Sammler von Vogeleiern und Händler von seltenen Vögeln und Eiern (und ich weiß nicht, was sonst noch … alles mehr oder weniger illegal). Es gab einen engen, männlichen Freundeskreis, den die gemeinsamen Unternehmungen zusammengeschmiedet hatten, und es floß immer reichlich Alkohol. Vera hasste all diese Geschäfte zutiefst und verließ mit sechzehn Jahren ihr Zuhause, um bei der Polizei eine Ausbildung zu beginnen.
Sie machte ihren Weg und wurde schließlich DI (Detective Inspector), immer davon besessen, über Hector und seine illegalen Geschäfte nachzugrübeln, die auch nach Hectors Tod noch Folgen für sie und ihre Karriere haben könnten. Als Hector starb, verbrannte sie all seine Sachen und leerte seinen Whiskyvorrat, während sie das Freudenfeuer betrachtete. Darüber hinaus hat sie im Haus nicht viel verändert.
Ich gestehe, dass die Schauspielerin Brenda Blethyn meine „Vera Stanhope” ist, seit ich die Fernsehserie „Vera” zum ersten Mal gesehen habe. Es passt einfach alles!
Zugegeben, Brenda Blethyn’s Vera ist etwas modischer, wohl auch etwas schlanker und sie hat es zum DCI (Detective Chief Inspector) geschafft, aber die Haupteigenschaften der Original-Vera blieben erhalten – ob Gummistiefel, ob generelle Unfreundlichkeit, ob harter Kommandoton, ob Bier, Whisky …
Vera ist in den 50ern und hat das Ende ihrer Karriereleiter erreicht. Ihr Job ist ihr Leben. Ihre Mordermittlungen sind ihr Lebenselixier.
Sie lebt in Nordengland in einer kargen Landschaft mit einem rauen Klima und einer weiten Küste. Der Himmel scheint immer bewölkt, es scheint eher regnerisch und kalt zu sein – obwohl Vera manchmal auf einer Promenade sitzt und sich ein großes Eishörnchen gönnt. Kurz, wir haben es hier nicht mit der klassischen englischen Bilderbuchlandschaft zu tun, in der nur saubere Morde passieren, sondern wir befinden uns in einer weiten, leeren Gegend mit Menschen, die – ob arm, ob reich – hart geworden sind, sich rächen wollen, Verbrechen verschleiern müssen …
Veras Morde sind oft grausam, oft spontan und manchmal vorsätzlich. In der Regel gibt es einen aktuellen Auslöser, der zu einem gewaltsamen Tod führt, aber der eigentliche Grund dafür liegt fast immer in der Vergangenheit. Am Ende gibt es keine offenen Rechnungen mehr, obwohl die Ereignisse 20 oder gar 30 Jahre zurückliegen, die damals Opfer forderten und dann nach langen Jahren des Friedens und der Ruhe einen plötzlichen Ausbruch der Gewalt erzwingen … Die beteiligten Personen haben sich weiterentwickelt, haben aber nie ihre Taten oder ihr Leid vergessen. Wenn dann plötzlich ein längst vergessener Gewaltakt oder ein moralisches Fehlverhalten ans Licht zu kommen droht, fühlen Menschen oft gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen.
Es könnte sein, dass die Knochen eines längst vergessenen, verschwundenen Kindes auftauchen. Vielleicht begeht ein Lebenslänglicher, der immer auf seiner Unschuld beharrt hat, Selbstmord und eine neue Untersuchung wird ins Leben gerufen. Jemand will ein Buch über einen Mordfall veröffentlichen und verstrickt sich in den nie vollständig überprüften Hintergrund des Falles. Nach Jahren erfährt vielleicht ein Mann, wie sein Bruder zu Tode kam und wie alles unter den Teppich gekehrt wurde. Ein Vater sucht Rache für seine Tochter, die an einer Überdosis Drogen starb. Uneheliche Kinder …
…und schließlich wird Vera mit den Sünden ihrer eigenen Familie konfrontiert. Hector war irgendwie – vielleicht – in einen Mord verwickelt: mindestens einer seiner Freunde wird seit etwa 20-25 Jahren vermisst und zwei Skelette tauchen auf. Vera ist entschlossen, diesen Fall zu lösen – und das tut sie natürlich auch.
Zusammen mit ihrem Team, Joe Ashworth (verheiratet, Kinder), Holly Lawson (Single, ein bisschen wie ein Nerd) und Charlie (den Ruhestand vor Augen), bearbeitet Vera alle Fälle. (In der TV-Serie wechselt das Team nach einiger Zeit und Charlie heißt übrigens Kenny Lockhart … nur zur Information!) Offensichtlich ist Vera nicht die beliebteste Teamleiterin, aber alle finden sich damit ab. Holly, Detektive Constable, ist neidisch auf Joe, der schon Detective Sergeant ist und dazu noch Veras Liebling … Charlie neigt zur Trägheit.
Das Lesen der Romane braucht seine Zeit: Es gibt immer Vera und ihre Gedanken und Taten, aber es gibt auch andere Handlungsstränge – meist von unbeteiligten Dritten oder den Opfern. Am Ende sehen wir immer ein mehr oder weniger grobes Gesamtbild aller Ereignisse der Vergangenheit und der Gegenwart.
Wie bereits erwähnt: Es gibt eine gute TV-Serie über Vera Stanhope, in der alle Romane verfilmt wurden und schon viele weitere Fälle hinzugekommen sind.