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Es war unglaublich anstrengend gewesen, den dritten Wecker abzustellen, den sie absichtlich weit von ihrem Bett aufgestellt hatte. Ihre Beine fühlten sich an wie Betonklötze, ihr war schwindelig, und sie befürchtete, ihre Augen nicht offen halten zu können. Erst nach dem zweiten Kaffee, einer Dusche und einer Zigarette an der frischen Luft fühlte sie sich einigermaßen bei Sinnen. Sie war eindeutig zu spät dran. Wie immer musste sie sich das Frühstück aus der Bar in Santo Stefano mitnehmen. …
»Also, Kinder«, begann Vanina, setzte sich mit einer Pobacke auf die Ecke des Schreibtischs und stellte ein kleines Tablett mit einem Becher ab, aus dem es nach Kaffee duftete.
»Fassen wir zusammen. Seit gestern wissen wir, dass wir es hier mit keinem, sagen wir … gewöhnlichen Fall zu tun haben … «
aus: Schwarzer Sand
Die rastlose Polizistin
Vicequestore Giovanna Guarrasi, genannt Vanina, aber nur von Freunden, ist stellvertretende Polizeidirektorin und Chefin der Abteilung “Straftaten gegen Leib und Leben”. Sie hat es mit gerade mal 39 Jahren schon sehr weit gebracht, war auch schon in anderen Regionen Italiens stationiert, ist aber schließlich vor kurzem in ihre heimatlichen Gefilde auf Sizilien, Catania und Palermo, zurückgekehrt.
Sie ist unverheiratet und hat auch keinen Partner … aber da war mal jemand in der Staatsanwaltschaft, den sie nach ein paar Jahren Zusammenleben verlassen hat. So langsam kommt in den ersten beiden Romanen ans Tageslicht, warum die Beziehung so kritisch war und wovor Guarrasi Angst hatte. Die Beziehung wurde vor ein paar Jahren zwar beendet – ihr Partner hat geheiratet und ist Vater geworden, aber schon wieder getrennt … also die Beziehung ist immer noch irgendwie da, man trifft sich, man trennt sich wieder … Andere Männer haben da schlechte Karten.
Natürlich schleppt Guarrasi auch psychische Altlasten mit sich herum. Ihr Vater war ebenfalls bei der Polizei und wurde vor ihren Augen erschossen, als sie noch ein Kind war. Diese Szene beherrscht sie noch heute. So ganz hat sie auch nie verwunden, dass ihre Mutter recht schnell wieder geheiratet hat und sie einen Stiefvater und eine Halbschwester bekam, obwohl kein Grund für eine unglückliche Kindheit und Jugend vorlag. Jedenfalls steht Guarrasi mit ihrer Familie immer noch auf Kriegsfuß.
Bleibt noch zu erwähnen, dass sie gern und viel und vor allem gut in Restaurants isst, aber natürlich auch zu Fast Food greift, wenn es in einem Fall hektisch und eng wird. Glücklicherweise hat sie eine Vermieterin, die gern und gut für sie kocht. Sie raucht viel, sehr viel. Sie trinkt viel Kaffee. Sie liebt alte italienische Filme, am liebsten aus den 50er, 60er … Jahren.
Wenn sie sich in einen Fall verbeißt, eine bestimmtes Detail klären will, arbeitet sie schon mal die Nacht durch … Sie hat zwar auch ein soziales Leben … einige gute Freunde, aber ihr Fokus ist auf ihre Arbeit ausgerichtet. Kurz: sie ist ein Workaholic.
Ihre Fälle sind verzwickt und oft beißt sie sich die Zähne aus, nicht nur sie, sondern auch ihr Team. Verzwickt bedeutet auch, dass neben ihrem eigenen recht großen Team und den Teams anderer Abteilungen, die manchmal mitspielen wollen, sowie den Heerscharen aus der Spurensicherung und den Experten aus der Gerichtsmedizin, der Staatsanwaltschaft und darüber hinaus viele Zeugen und potentielle Verdächtige beliebig zur Komplexität beitragen. Am Ende wird zwar immer geklärt, wer welches Verbrechen begangen hat, aber bis dahin ist es manchmal ein harter Weg – auch für den Leser, wenn er den Überblick behalten will.
Als stellvertretende Polizeidirektorin hat sie gewissen Freiraum, so dass sie auch einen über 50 Jahre alten Mordfall bearbeiten kann. Genauso kann sie ihr Team mit einem Fall beschäftigen, in dem die Leiche fehlt, aber alle davon ausgehen, dass eine Leiche irgendwo darauf wartet gefunden zu werden. Oder sie untersucht Leichen aus Verbrechen, die aus ihrer Sicht zusammenhängen, aber dummerweise in unterschiedlichen Bezirken – mit unterschiedlichen Zuständigkeiten – gefunden wurden …
Immer wieder tritt Guarrrasi jemandem auf die Zehen, wenn sie und ihr Team recherchieren – ob Politiker, Wirtschaftsbosse, hochrangige Beamte in den Polizeiorganisationen oder wo auch immer. Die italienische Gesellschaft ist berüchtigt für ihre vielfältigen Verflechtungen und ihre Familienbande. Manchmal scheint jeder irgendeine Leiche im Keller zu haben. Dazu kommt noch Bestechung in allen Lebenslagen und das Eigenleben von Geschäftsbeziehungen, ob legal oder eher im Graubereich. Darüber hinaus gibt es noch die alteingesessenen Familien und ihre kriminellen Aktivitäten, aka organisiertes Verbrechen.
Guarrasi wird mit allem fertig – zumindest nimmt sie es mit jedem und allem auf.
Langsam nähert sie sich auch ihrem Ziel, Rache für den Tod ihres Vaters zu nehmen. Sein Tod nagt bis heute an ihr. Sie arbeitet fieberhaft daran, die Täter von damals zu überführen – was natürlich nicht so einfach ist. Aber sie hat ihre kleinen Erfolge … auch wenn es lange dauert und das organisierte Verbrechen bis in die Polizeiorganisation hinein vernetzt ist, so dass die Täter immer einen Schritt voraus zu sein scheinen. Schließlich scheint sie sogar selbst ins Fadenkreuz der betroffenen Mafia-Familie zu geraten.
Guarrasi hat ein Team, auf das sie sich verlassen kann, auch wenn klar wird, dass alle ganz normale Menschen sind – mit allen Stärken und Schwächen. Es gelingt ihr, alle mitzureißen, wenn es darum geht, einen Fall zu lösen. Ganz spezielle Unterstützung bekommt sie von einem pensionierten Kollegen, der sich an alle Fälle der Vergangenheit erinnert und gern mit Rat und Tat zur Seite steht – vor allem weil er sich im Ruhestand zu langweilen scheint.
Das Leben von Guarrasi und ihrem Team ist trotz der außergewöhnlichen Fälle nicht spektakulär, wie ich schon andeutete. In den Romanen entsteht insgesamt ein lebendiger Eindruck vom alltäglichen, interessanten Leben in Sizilien, das um alle herum existiert. Eine hochrangige Polizistin scheint manchmal nicht so recht hineinzupassen. Guarrasi ist keine typische Frau, sondern agiert eher wie ein Mann …
Sizilien: Da fällt mir sofort il Commissario Montalbano ein, der mit Guarrasi zumindest die Vorliebe für gutes Essen teilt. Guarrasi ist jedoch wesentlich hektischer und agiler unterwegs, was wohl daran liegen kann, dass sie in Catania oder Palermo agiert, während Montalbano in einer kleinen Stadt an der Küste lebt und arbeitet. Für die Krimiszene in Sizilien ist Guarrasi neben dem Großmeister eine Bereicherung.